Nachruf auf Ralph H. Baer - Der Vater des Videospiels

Am 6. Dezember verstarb der Videospiel-Pionier Ralph H. Baer im Alter von 92 Jahren. Bis zuletzt betätigte er sich als Erfinder – und als mitteilungsfreudiger Zeitzeuge der Geburt der Spieleindustrie. Stephan Freundorfer gedenkt dem fast vergessenen Vater unseres Hobbys.

Ralph H. Baer in seinem heimischen Arbeitszimmer: Neben der ersten Spielkonsole Odyssey erfindet er auch das bis heute beliebte Farben- und Tonmerk-Spielzeug Senso (in den USA Simon). Ralph H. Baer in seinem heimischen Arbeitszimmer: Neben der ersten Spielkonsole Odyssey erfindet er auch das bis heute beliebte Farben- und Tonmerk-Spielzeug Senso (in den USA Simon).

»Darf ich Sie zuerst fragen, was Sie berühmt macht? Damit die Leute, die Sie nicht kennen, eine Vorstellung davon bekommen, wer Sie sind«, leitet der Retroaktivist Jörg Dröge sein einstündiges Skype-Gespräch mit Ralph Baer ein. Der lacht kurz in sich hinein: »Ein paar Leute dürften mich schon kennen. Ich bin so beschäftigt damit, E-Mails zu beantworten, dass ich gar keine Zeit für irgendwas anderes habe.«

Schon diese kurze Szene (auf Youtube ist das gesamte Interview zu finden) deutet an, was für ein besonderer Mensch der am vergangenen Samstag in seiner Heimatstadt Manchester im US-Bundesstaat New Hampshire verstorbene Ralph H. Baer war. Baer ist zum Zeitpunkt des Interviews 91 Jahre alt. Das hält ihn nicht davon ab, sich mit viel Sorgfalt und Humor der Fragen anzunehmen, die ihm tagtäglich zu seinem Leben und seinem Werk gestellt werden. Nach über 60 Jahren als Ingenieur und Tüftler könnten seine Antworten bibeldicke Schwarten füllen. Letztlich dreht sich aber dann doch alles um die eine Erfindung, die Baer seine Rolle in den Geschichtsbüchern zuweist. Er ist der »Vater der Videospiele«.

Ralph Baer, 1922 in der Südwestpfalz geboren und 1938 mit seiner jüdischen Familie aus Nazi-Deutschland in die USA ausgewandert, arbeitet als ausgebildeter Rundfunktechniker gut 30 Jahre lang bei der Rüstungsfirma Sanders, wo er sich in den 1960ern ausgiebig mit TV-Bildschirmen beschäftigt. Er kennt kein Spacewar, mit dem Unistudenten bereits seit Anfang des Jahrzehnts wertvolle Rechenzeit verplempern, als ihm am 1. September 1966 ein Geistesblitz zum Erfinder der Heimkonsolen macht.

Vom braunen Kasten zum Urknall

Baer stellt sich die Frage: »Wozu könnte man die vielen Millionen TV-Geräte in den Wohnzimmern noch nutzen außer zum Fernsehen?« Und kommt auf die simple Antwort: »Zum Spielen!« Vier Seiten schreibt er voll mit seinem Konzept eines »TV Gaming Display«, skizziert die technische Umsetzung seiner Idee und sogar erste Genres wie Action-, Brett- oder Sportspiele. Er überzeugt seine Chefs und darf mit zwei Kollegen an der Umsetzung tüfteln, Anfang 1967 funktionieren bereits simple Ball-und-Schläger-Spielchen, 1968 ist der Prototyp »Brown Box« fertiggestellt, der schließlich als Vorlage für die erste Heimkonsole der Geschichte dient: Die Odyssey, die vom US-Elektronikkonzern Magnavox gebaut und ab 1972 verkauft wird.

Die Brown Box ist der Prototyp der ersten Heimkonsole der Geschichte. Sie entsteht 1968. Die Brown Box ist der Prototyp der ersten Heimkonsole der Geschichte. Sie entsteht 1968.

»Wenn die Technologie reif für etwas Neues ist, wenn die Komponenten erschwinglich werden, die man benötigt, um etwas Neues zu schaffen, dann wird dies auch von jemand geschaffen - oder wahrscheinlicher von mehreren Leuten«, schreibt Ralph Baer in der Einleitung zu seiner Videospiel-Biographie »Videogames: In the Beginning«. Ihm ist klar, dass die Zeit irgendwann reif war für interaktive Bildschirmunterhaltung, dass es Videospiele wohl auch ohne seinen brillanten Erfindungsgeist gegeben hätte. Und er teilt diese Erkenntnis freimütig der Welt mit.

Es zeichnet Ralph Baer aus, dass er trotz seiner immensen Bedeutung für ein Medium, das gut 40 Jahre nach Baers Urknall aus unserem Leben (und der globalen Wirtschaft) nicht mehr wegzudenken ist, bescheiden bleibt. Einer, der selbst mit 91 Jahren jede schon Tausend Mal gestellte Frage geduldig beantwortet, obwohl er »immer noch arbeitet, immer noch am laufenden Band neue Spielzeuge und Spiele produziert«. Sein Leben lang ist Baer Ingenieur und Erfinder geblieben, die dampfplaudereigetriebene Personality-Show war nie seins.

Später Ruhm

Das Patent des »Television gaming and training apparatus« bringt Baers Arbeitgeber Sanders viele Millionen Dollar Lizenzgebühren von Atari, Sega, Nintendo und vielen anderen Spielefirmen ein. Das Patent des »Television gaming and training apparatus« bringt Baers Arbeitgeber Sanders viele Millionen Dollar Lizenzgebühren von Atari, Sega, Nintendo und vielen anderen Spielefirmen ein.

»Du musst Dein Ego unterdrücken«, sagt er 1982 in einem Interview dem US-Magazin Video Games. Seit knapp zehn Jahren kämpft er da schon an der Seite seines Arbeitgeber Sanders gegen die Verletzung seines Patents eines »Television gaming and training apparatus«, der »(…) zur Erzeugung, Darstellung und Manipulation von Symbolen auf TV-Empfängern zum Zwecke des Spielens (…)« dient. Letztlich müssen sie alle zahlen, Coleco, Mattel, Activision, Sega, Nintendo - und natürlich Atari. Dessen Gründer Nolan Bushnell geriert sich dennoch gern als Urvater des Videospiels, der mit seinem Pong-Automaten das milliardenschwere Business begründet habe.

»Bushnell hat unglaublich viel für die Industrie getan«, räumt Baer in dem Video Games-Interview ein, »für mich ist es unbestritten, dass er der wesentliche Katalysator zur Entwicklung der Industrie war. Dafür gebührt ihm Anerkennung. Es wäre nur schön, wenn ich öfters als der Erfinder identifiziert würde.«

Lange Jahre geht Baers Wunsch nicht in Erfüllung. Die Industrie entwickelt sich rasant weiter, ihre Wurzeln aus den 1970er-Jahren geraten zunehmend in Vergessenheit; nur Bushnell und Atari überdauern als Ikonen der Videospielfrühzeit in den Hinterköpfen. Erst der anlaufende Retrotrend bringt eine Rückbesinnung auf die Anfangstage der Industrie, in den 1990ern beginnen alternde Spieler, sich allmählich dafür zu interessieren, was und wer da ihre Kindheit und Jugend entscheidend geprägt hatte. Videospiel-Historiker treten auf den Plan - unter ihnen der Amerikaner Leonard Herman, der 1997 Kontakt zu Ralph Baer aufnimmt, ihn zurück ins Rampenlicht holt und 2004 schließlich »Videogames: In the Beginning« verlegt.

Zehn Jahre lang genießt Ralph Baer die späte Aufmerksamkeit, die ihm und seiner Leistung zuteilwird. Aber er tut dies auf seine ihm eigene, uneitle und kluge Weise, ist für jede Anfrage, jedes Gespräch ohne Ansehen der Person oder ihrer Relevanz offen. Es scheint, als erfreute er sich bis zuletzt an seinen Erfindungen, und vor allem auch daran, welche Bedeutung diese für Millionen Menschen haben. Mit Ralph H. Baer hat die Welt einen großartigen Erfinder verloren. Und die Videospielwelt ihren liebevollen Vater.

Ralph Baer verstarb am 6. Dezember 2014 im Alter von 92 Jahren.

Magnavox Odyssey Die Odyssey-Konsole verfügt über ungewöhnliche Paddle-Steuereinheiten, mit denen die horizontale und vertikale Position sowie der Effet von Bildschirmobjekten kontrolliert werden können.

Magnavox Odyssey (Verpackung) Das Magnavox Odyssey verkauft sich laut Baer 350.000 Mal. Auch in Deutschland kommt das Gerät auf den Markt.

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