Spielzeit-Debatte um The Order: 1886 - Es kommt nicht auf die Länge an

Noch vor dem Release von The Order 1886 kochen im Netz die Gemüter hoch: Eine so kurze Spielzeit bei einem reinen Solo-Spiel rechtfertige unter keinen Umständen einen Vollpreis von 60 Euro. Die vorschnellen Kritiker machen es sich mit solchen Pauschalisierungen aber allzu leicht, findet Philipp Elsner.

Die Entwickler von The Order: 1886 sind in der Defensive: Noch vor dem Release hagelt es von Community und Presse gleichermaßen Kritik an zu kurzer Spielzeit ohne Wiederspielwert, ohne Koop, ohne Multiplayer-Modus. Ausgangspunkt der Vorwürfe ist ein Leak des Youtubers PlayMeThrough, der für seinen Durchlauf von The Order: 1886 nur rund fünfeinhalb Stunden gebraucht hat.

Kurz darauf fluten empörte User-Kommentare, Artikel und Beiträge das Netz. Ein Spiel für 60 Euro, das nach fünf Stunden durchgespielt ist und dann für immer im Schrank verstaubt? Eine Frechheit. Das Entwicklerstudio Ready at Dawn sieht sich genötigt, zu reagieren, und spricht von einem »fahrenden Zug der Negativität«, auf den ständig neue »Mitläufer« aufspringen würden, verteidigt sich gegen die Spielzeit-Vorwürfe - von Mobbing ist gar die Rede.

Tatsächlich geht das Netz hart mit dem Spiel ins Gericht. Von Reddit und den Kommentarbereichen vieler Spielewebseiten schwappt gefährliches Halbwissen in die Social-Media-Kanäle und verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Im Forum von Angryjoeshow.com schreibt ein User es sei »lächerlich, wie man ein fünf Stunden langes, reines Solospiel zum Vollpreis anbieten« könne. Es sei sogar möglich, The Order: 1886 in nur vier Stunden zu beenden. Nur einen Tag später landet ein entsprechender Tweet von Angry Joe in seinem offiziellen Facebook- und Twitter-Channel mit dem Hashtag #4HOURS? und heizt die Spekulationen weiter an.

Auf Facebook prangert Angry Joe unter dem Hashtag #4HOURS die Spielzeit von The Order an. Viele User widersprechen in den Kommentaren. Auf Facebook prangert Angry Joe unter dem Hashtag #4HOURS die Spielzeit von The Order an. Viele User widersprechen in den Kommentaren.

In einer Kolumne bei VG247 wird The Order: 1886 wenig später als Relikt vergangener Videospieltage gebrandmarkt, in denen kurze Einzelspielertitel ohne Mehrspieleranteil zum Vollpreis noch dem Standard entsprachen. In der heutigen Branchen-Landschaft müsse ein Titel entweder mehr bieten - oder weniger kosten, so der Tenor des Artikels. »Egal wie gut The Order: 1886 ist, es ist keine 60 US-Dollar wert«, lautet das Fazit.

Wo bleibt die Fairness?

Und genau hier liegt meines Erachtens der Trugschluss: Muss nicht jeder Spieler für sich persönlich entscheiden, was ihm 60 Euro wert ist? Ist es nicht Geschmackssache - eine Frage von Qualität versus Quantität, auf die jeder Spieler mit seiner Kaufentscheidung eine eigene Antwort finden muss? Besonders heikel: Von all den Kritikern hatte kaum jemand selbst The Order: 1886 gespielt! Und die wenigen Presseleute, die schon vorab Zugang zum Spiel hatten, durften sich aufgrund des Embargos - wie es in der Branche durchaus üblich ist - nicht äußern. Stattdessen werden die Vorwürfe blind nachgeplappert und wilde Schlussfolgerungen gezogen.

Eine überstürzte Vorverurteilung eines Spiels vor Release ist genauso verwerflich wie grenzenloser Hype. Um bei der Bewertung eines Spiels fair zu bleiben, sollte man erst die Fakten kennen und sich vor allem nicht auf Vermutungen und Behauptungen anderer stützen. Wie sich schnell herausstellt, gleicht das geleakte Video vielmehr einem Speedrun als einem durchschnittlichen Walkthrough.

Ja, wer alle story-relevanten Items im Spiel links liegen lässt, fast nie stirbt und sich auch sonst keinen Moment Zeit nimmt, kann The Order: 1886 in knapp sechs Stunden durchspielen. Alle anderen werden mit dem Spiel aber einige Stunden länger beschäftigt sein (wie lange genau, kann man im GamePro-Test lesen). Aber egal, wie lange jeder einzelne tatsächlich braucht: Ist das wirklich das allentscheidende Kriterium bei der Frage, ob The Order: 1886 gut oder schlecht ist? Die Spielzeit als einzigen Faktor für Spielspaß heranzuziehen, ist ebenso inkonsequent, wie zu behaupten, ohne perfekte Grafik tauge ein noch so toll gemachtes Spiel nichts.

Der Umfang eines Spiels alleine sollte nicht die Qualität des Gesamtprodukts definieren - denn auch ein kurzes Spiel kann großen Spaß machen. Beispielsweise, wenn es denkwürdige Missionen auffährt, eine spannende Geschichte erzählt, originelle Waffen und Gegner bietet. Ich werde lieber sechs oder sieben Stunden großartig unterhalten, als mich über 20 Spielstunden hinweg immer wieder zu langweilen - weil die Entwickler mit Warterei, Grinding und Leerlauf die Spielzeit strecken. Auch das gibt es ja immer wieder.

Natürlich darf man ein Spiel trotzdem dafür kritisieren, dass es kurz ist. Um das klarzustellen: Dies ist kein Plädoyer für kurze Spielzeiten, oder dafür, generell Qualität über Quantität zu stellen. Der Fairness halber sollte man aber nicht ausschließlich die kurze Spielzeit als Vorwand heranziehen, um ein Spiel als Ganzes abzustrafen - noch dazu, bevor man es überhaupt selbst gespielt und sich ein eigenes Bild gemacht hat.

Denn wer an einem einzelnen wenngleich wichtigen Aspekt bereits sein Gesamturteil festmacht, kann dem Spiel als Ganzes überhaupt nicht gerecht werden.

Hinweis: Eine Kolumne ist ein persönlicher Meinungsbeitrag des Autors, der nicht unbedingt die Meinung der gesamten Redaktion widerspiegeln muss.

Viele User und Kritiker bemängeln die Spielzeit von The Order: 1886 noch vor Release - und das, obwohl es noch kaum jemand gespielt hat. Viele User und Kritiker bemängeln die Spielzeit von The Order: 1886 noch vor Release - und das, obwohl es noch kaum jemand gespielt hat.

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