Zweimal durch The Witcher 2 - Ein Loblied auf den Wiederspielwert

Was tun, bis endlich The Witcher 3 erscheint? Für Heiko Klinge kann’s darauf nur eine Antwort geben: erneut den Vorgänger spielen! Denn Geralts letztes Abenteuer ist nicht nur großartig gealtert, sondern erzählt beim zweiten Spieldurchgang sogar eine andere Geschichte.

Geralt steht auf dem Burgturm und wirkt wie die personifizierte Souveränität - ich hingegen komme mir gerade vor wie ein alter, vergesslicher Sack. Wie zum Henker hatte ich mich damals beim ersten Durchspielen von The Witcher 2 entschieden?

Dutzende Soldaten haben ein zweites Mal meine Schwertkünste zu spüren bekommen, trotzdem will sich ihr Anführer Baron La Valette ein zweites Mal nicht ergeben. So weit, so bekannt.

Nur kann ich mich ums Verrecken nicht daran erinnern, wie ich damals auf diese Provokation reagiert habe: Ihn und seine versammelte Leibgarde meinen Zorn spüren lassen, La Valette zu einem persönlichen Duell gefordert oder ihn zur Aufgabe überredet? Dabei wollte ich beim zweiten Spieldurchlauf doch alles anders machen als beim ersten!

Geralts Konfrontation mit Baron La Valette hat gleich drei mögliche Enden, die Konsequenz unserer Dialogführung bleibt bewusst im Dunkeln. Geralts Konfrontation mit Baron La Valette hat gleich drei mögliche Enden, die Konsequenz unserer Dialogführung bleibt bewusst im Dunkeln.

Auch das Spiel selbst hilft mir bei der Entscheidungsfindung keinen Meter weiter: Gäbe es Gut/Böse- oder Erfahrungspunkte-Anzeigen, wüsste ich als unverbesserlicher Effizienz-Gutmensch sofort, was ich damals gewählt habe.

Aber nichts da. Ich sehe lediglich drei Dialogoptionen, die allesamt irgendwie nachvollziehbar klingen und zudem nur wenige Rückschlüsse erlauben, wie sich das Gespräch anschließend entwickeln wird. Also wähle ich ganz einfach das, was mir in diesem Moment spontan durch den Kopf schießt … und bin von dort an vollkommen gefangen in der Welt von The Witcher 2. Zum zweiten Mal.

Neugierde hat kein Verfallsdatum

Eigentlich wollte ich The Witcher 2 nur kurz anwerfen, um das Spiel auf meinem neuen Rechner mit maximalen Grafikdetails zu erleben und mich auf den anstehenden Test von The Witcher 3: Wild Hunt vorzubereiten. Und ja, natürlich hat CD Projekt sein mittlerweile fast vier Jahre altes Baby geradezu vorbildlich gepflegt, vor allem mit dem kostenlosen Enhanced Edition-Upgrade, das unter anderem den ehemals schwachbrüstigen dritten Akt mit vier Stunden neuen Spielinhalten gehörig aufpoliert.

Das Interessante ist: Je länger ich spiele, desto weniger fällt mir auf, was sich seit meinem ersten Durchgang mit der Verkaufsversion alles verändert hat. Zum einen, weil sich die neuen Zwischensequenzen, Quests, Monster, Gegenstände und Schwierigkeitsgrade so natürlich einfügen, als seien sie schon immer da gewesen.

Zum anderen, und das ist für mich der entscheidende Punkt, erlebe ich The Witcher 2 mit nahezu der gleichen Faszination und Neugierde wie beim ersten Durchgang. Und ich kann mich genauso wenig wieder davon losreißen. Dieser Wiederspielwert ist in meiner Rollenspielehistorie die absolute Ausnahme, selbst bei Skyrim oder den Bioware-Meilensteinen Dragon Age und Mass Effect war bei mir nach dem ersten Durchgang die Luft raus.

Mehr Mut zur Lücke

Aber wie schafft The Witcher 2 bei mir etwas, woran alle anderen Titel mit ihrer ach so großen Entscheidungsfreiheit scheitern? Die Antwort führt zurück zu meinem Problem mit Baron La Valette: Weil mich das Spiel bei vielen Dingen ganz bewusst im Dunkeln lässt.

Es gibt keine Fragezeichen auf der Map, die mich wie in Skyrim auf Erkundenswertes hinweisen. Sondern nur das, dem ich gerade ganz bewusst meine Aufmerksamkeit schenke. Es gibt keinerlei Dialoganzeigen à la Dragon Age, ob einem Gesprächspartner meine Antwort gerade gefallen hat. Sondern nur meine eigene Interpretation des Sachverhalts und die Konsequenzen meiner Entscheidung.

Wer eine bestimmte Entscheidung trifft, bekommt dieses Armeelager und die dortigen Quests gar nicht erst zu Gesicht. Und das ist großartig. Wer eine bestimmte Entscheidung trifft, bekommt dieses Armeelager und die dortigen Quests gar nicht erst zu Gesicht. Und das ist großartig.

Das beste Beispiel für diesen bewussten Mut zur Lücke ist der Drache, der sowohl im Prolog als auch im Finale eine wichtige Rolle spielt. Erst beim zweiten Durchgang habe ich erfahren, woher der eigentlich kommt - das hängt nämlich davon ab, ob ich vorher eine bestimmte Entscheidung getroffen habe.

Wer Geralts Abenteuer nur einmal spielt, sieht selbst bei größter Erkundungssorgfalt bei weitem nicht alles, was die Entwickler eingebaut haben. Der Witz ist: Trotzdem hatte ich nie das Gefühl, dass mir was vorenthalten wird.

The Witcher 2 ist der Gegenentwurf zum Trend, dem Spieler ausnahmslos alles bis ins letzte Detail erklären zu müssen, und auch deshalb solch ein erzählerisches Meisterwerk. Denn nur, wenn wir nicht alles vorgeplappert bekommen, kann jeder seine eigene Geschichte erspielen. Sollte man erlebt haben. Am besten zweimal.

Hinweis: Eine Kolumne ist ein persönlicher Meinungsbeitrag des Autors, der nicht unbedingt die Meinung der gesamten Redaktion widerspiegeln muss.

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