Mordors Schatten - Das Erbe, das niemand antreten will

Manchmal bedarf es nur einer einzigen guten Idee, um ein Spiel zu einem Meilenstein werden zu lassen. Mordors Schatten hatte eine solche Genre-prägende Idee, doch das Erbe wurde bis heute nicht angetreten. Ein Kuriosum und ein schweres Versäumnis, wie Dom glaubt.

Das Nemesis-System von Mordors Schatten - eine clevere Mechanik. Das Nemesis-System von Mordors Schatten - eine clevere Mechanik.

Gewalt und Kampf gehören zu den häufigsten Themen, die von Videospielen dargestellt werden: Wieso also nicht direkt hier mit einer frischen Idee für etwas Aufsehen und ein paar erfrischende Spielstunden sorgen?

Genau das schien sich auch Monolith Productions gedacht zu haben, als sie ihre Arbeiten an Mittelerde: Mordors Schatten begannen und 2014 schließlich für eine echte Überraschung sorgten. Sie präsentierten ein Open World-Spiel in J. R. R. Tolkiens Fantasiewelt, das uns ganz klassisch mit unzähligen Nebenquests und einer seichten, aber hübsch inszenierten Storyline über zig Spielstunden bei Laune halten will - und dann plötzlich die Vorstellung des Nemesis-Systems.

Bäm!

Diese Neuerfindung unseres Konflikts mit den KI-Gegnerscharen sah niemand kommen.

Goethe gefällt das

Ausgerechnet Goethe hat das Nemesis-System als Kern einer Geschichte benutzt, lange bevor seine Nachfahren mit PS4-Controller in der Hand nach Mittelerde ausziehen konnten. In seiner Ballade »Der Zauberlehrling" erzählt der Dichter von einem Magus, der trotz bester Absichten plötzlich in eine brenzlige Situation gerät: Die von ihm beschworenen Besen, die ihm eigentlich beim Aufräumen helfen sollten, geraten außer Kontrolle und drohen, das Laboratorium seines Meisters unter Wasser zu setzen.

Bei dessen Rückkehr ist der Lehrling schließlich völlig verzweifelt, fast in Lebensgefahr:

"Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! hör mich rufen! -
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los."

In einer ganz ähnlichen Situation befindet sich auch Talion, Waldläufer und Protagonist von Mordors Schatten: Auf seinen Streifzügen durch die klassischen Genre-Abenteuer eines Open World-Spiels stößt er immer wieder auf Orks, Goblins und Uruks, die ihn zum Duell herausfordern - und Talions Gegner Möglichkeit gibt, selbst eine gewisse Reputation unter ihresgleichen zu erlangen.

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Kann Talion seinen Widersacher nicht niederstrecken oder geht etwa selbst zu Boden, spawnt der Waldläufer ganz klassisch am letzten Speicherpunkt, doch unser Gegner wird sich an diesen Triumph erinnern. Er steigt im Rang seines Kampfrudels auf, wird stärker und bei unserem nächsten Duell eine deutlich härtere Nuss sein. Mit etwas Pech schaffen wir uns so nach uns nach eine ganze Heerschar namhafter Feinde, die tatsächlich zu einer echten Herausforderung werden können.

Goethe gefällt das.

Die Welt dreht sich weiter - auch ohne uns

Dieses Feature bildet das Nemesis-System und stellt das klassische Verständnis von Open World auf den Kopf: Die virtuelle Welt um uns dreht sich nämlich weiter, selbst wenn wir uns dazu entschließen, nichts zu tun.

Und dies geschieht nicht auf eine plakative und oberflächliche Art und Weise wie beispielsweise in GTA 5, das den ständigen Trott einer Zivilbevölkerung um uns herum vortäuscht oder wie bei The Witcher 3, in dem Dorfbewohner zwar einen eigenen, aber sich ständig wiederholenden Alltag pflegen. Beides sind fesselnde, überzeugende Spielwelten, in deren Mittelpunkt aber dennoch weiterhin wir als entscheidendes Rad im Zahnwerk stehen.

Die Welt von Mordors Schatten kann zwar keine vergleichbaren Zivilstrukturen bieten, die uns freundlich gesinnt sind und die wir fasziniert wie Ameisen im Einmachglas beobachten können, doch vermag sie gleichzeitig so viel mehr.

Mittelerde: Mordors Schatten - Launch-Trailer zur GOTY-Version Video starten 1:26 Mittelerde: Mordors Schatten - Launch-Trailer zur GOTY-Version

Die zahlreichen Feinde sind überall und sie bewegen sich ständig durch die Landschaft, bekriegen sich untereinander, schaffen ihre eigenen Helden, Mythen und Geschichten. Wir erfahren von ihren Taten ebenso wie sie von den unseren nur über Hörensagen und Gerüchte. Statt die in der Welt platzierten Gegner also ganz klassisch als überwindbare Hindernisse zu begreifen, die darauf zu warten scheinen, besiegt zu werden, schenkt Mordors Schatten den Kreaturen eine eigene Dynamik, die auch unabhängig von uns funktioniert.

Jeder Eingriff in diese autark funktionierende Welt, jedes Kreuzen unserer Wege mit den Gegner, führt unweigerlich zu einzigartigen Erlebnissen, die keine Quest oder Storyline sonst bieten könnte.

Auch nach über einem Jahr erinnere ich mich noch immer an Nosgath Ruul, den Uruk-Häuptling, dessen Patrouille ich überfiel und der mich schließlich niederstreckte. Ich hatte die zahlenmäßige Überlegenheit seiner Gefolgsleute unterschätzt, die den siegreichen Nosgath kurzerhand zum Heerführer meherer dutzend Kampfgruppen machten. Während ich in den folgenden Spielstunden mit Mini-Quests irgendwo im Süden des Landes meine Wunden leckte, schaltete der Uruk-Aufsteiger einen Konkurrenten nach dem nächsten aus und schließlich kannte ihn jede Kreatur des Kontinents unter seinem Kampfnamen »Der Knüppler".

Es wurde höchste Zeit, seinen weiteren Aufstieg zu verhindern, solange ich noch konnte und so versuchte ich während eines seiner Festbanketts ein verzweifeltes Attentat. Es gelang und nur mit Müh und Not entkam ich der Festung von Nosgath Ruul. Das sind Geschichten, die ich gemeinsam mit der Spielwelt geschrieben habe und die lange, lange im Gedächtnis bleiben.

Wo bleiben die Nachahmer?

Der Verdienst des Nemesis-Systems, die Bereicherung der Open World-Formel um eine neue, aufregende Zutat, ist unbestreitbar. Umso mehr wundere ich mich darüber, dass diese Idee bis heute so gründlich ignoriert wird.

Auch wenn aus rechtlichen Gründen der Name des Features natürlich nicht übernommen werden kann, so bleibt doch die Idee, uns Spielern ein dynamisches System gegenüberzustellen, das sich auch ohne unser Zutun weiter verändert und uns im Gegenzug sogar zum Reagieren zwingt.

Mittelerde: Mordors Schatten - DLC-Screenshots aus »Der helle Herrscher« ansehen

Besonders schmerzlich habe ich ein solches System beispielsweise bei Mad Max vermisst, das uns in der aus den Filmen bekannten dystopischen Wüstenweld gegen Warlords in den Kampf schickt, die alle ihre eigenen Festungen, Basen und Einflussgebiete haben. Statt ganz traditionell auf festen Routen zu patrouillieren und im Grunde nur auf die Ankunft von Max zu warten, hätte hier ein dynamischeres System für weitaus mehr Spannung und Schärfe gesorgt.

Auch in The Witcher 3, das ich aktuell spiele, gewinne ich mehr und mehr den Eindruck, dass die Spielwelt im Grunde nur vor sich hin wartet, bis Geralt am Ort des Geschehens eingreift und die Rätsel entdeckt, die die Bewohner und Kreaturen ausgelegt haben.

Versteht mich nicht falsch, beide Spiele sind auf ihre Weise wunderbar unterhaltsam - doch ausgetretene Pfade bleiben ausgetretene Pfade, ganz egal, wie hübsch sie dekoriert sind.

Etwa zwei Jahre sind vergangen, seit Mordors Schatten die Genialität des Nemesis-Systems unter Beweis stellte. Noch erscheint es plausibel anzunehmen, dass Spiele wie eben Mad Max, zu denen ein solches System gut gepasst hätte, damals bereits zu weit in ihrer Entwicklung fortgeschritten waren, um kurzerhand noch ein so komplexes Modell unterzukriegen.

Mit diesem Gedanken tröste ich mich tapfer noch eine Weile und hoffe, dass mittlerweile irgendwo tatsächlich an einem Spiel gearbeitet wird, dass das Erbe von Mordors Schatten bereitwillig antreten wird. Und sollten andere Open World-Abenteuer weiter vor diesem Weg zurückschrecken, so muss wohl die bereits inoffiziell angekündigte Fortsetzung von Talions Geschichte ein zweites Mal zeigen, wie die Zukunft des Genres aussehen könnte.

Der Autor
Dom wurde von Mordors Schatten ebenso positiv überrascht wie viele seiner Freunde und Kollegen. Nun, zwei Jahre später, sehnt er sich nach einem Nachfolger, der das Nemesis-System aus Mittelerde in eine neue Spielwelt übertragen kann. Mögliche Kandidaten gibt es viele, Freiwillige offenbar hingegen gar nicht.

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