Videospiele helfen mir, mit meinem ungesunden Perfektionismus umzugehen

Unser Autor Erik Körner leidet seit Jahren an ungesundem Perfektionismus, der häufig zu Selbstzweifeln führt. Videospiele helfen ihm, mit dem Problem umzugehen.

Videospiele können helfen, ungesunden Perfektionismus zu mindern. Videospiele können helfen, ungesunden Perfektionismus zu mindern.

Als freier Autor ist Perfektionismus mein größter Feind. Ständig möchte mein Kopf mir einreden, dass weder ich noch die Dinge, die ich schreibe, gut genug wären. Ich weiß nicht, wie viele schlaflose Nächte ich deswegen schon erleiden musste. Ich popelte konstant an banalen Details in meinen Texten rum oder prokrastinierte aus Angst vor Kritik solange, bis mich die Deadline an den Schreibtisch zwang. Videospiele sind zwar kein Heilmittel für dieses Problem. Doch sie helfen mir, es besser zu verstehen und mit ihm umzugehen.

Contentwarnung: Die Artikel der Mental-Health-Woche befassen sich mit verschiedenen Aspekten mentaler Gesundheit und beinhalten mitunter auch Beispiele negativer Emotionen und ungesunder Verhaltensweisen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Bitte seid vorsichtig bei Texten, die potenziell triggernde Themen für euch enthalten.

Wichtiger Hinweis: Falls ihr selbst Depressionen oder selbstzerstörerische Gedanken habt: Ihr seid nicht allein. Holt euch bitte Hilfe. Zum Beispiel bei der Deutschen Depressionshilfe unter 0800/33 44 533 oder bei kostenlosen Beratungsstellen.

Aus dem Segen sehr guter Noten wurde ein Fluch

Zu Beginn ein Rückblick, damit ihr meine Situation nachvollziehen könnt. Niemand mag wehleidige Geschichten, also fasse ich mich kurz. In der Schule war ich das typische begabte Kind. Schon vor der ersten Klasse konnte ich lesen und Schulaufgaben habe ich meist binnen weniger Minuten erledigt. Sehr gute Noten kamen bis zum Abitur quasi von allein.

Das klingt wie ein Segen, und das war es während der Schulzeit. Heute ist daraus ein Fluch geworden. Nachdem sehr gute Ergebnisse über zehn Jahre ein selbstverständlicher Standard waren, betrachte ich nur sie heute als erstrebenswert. Bei aller Selbstverständlichkeit hat mein Hirn leider auch begonnen, mein Selbstwertgefühl an Bestleistungen zu koppeln. Problematisch ist das vor allem im Job. Wie weiß ich, ob ein Text "sehr gut" oder "nur gut" ist? Das Feedback zu jedem Artikel hilft mir zwar beim Einschätzen meiner Arbeit. Doch so greifbar und leicht verständlich wie eine Note ist es nicht.

Mein Job wäre manchmal leichter, würde es Zahlenfeedback wie in Spielen geben. Mein Job wäre manchmal leichter, würde es Zahlenfeedback wie in Spielen geben.

Durch meine Unsicherheit hat sich eine Art Bewältigungsmechanismus angeschlichen. Ich wollte immer ein bisschen "besser" sein als beim letzten Mal. Soll heißen: Der nächste Artikel sollte noch bildhafter, cleverer, kompakter werden. Bevor ich es merkte, jagte ich ein zunehmend unmenschliches Ideal. Im Gegenzug begannen verschiedene Ängste, mich zu jagen. Die Angst, mit dem Schreiben zu beginnen, weil der fertige Text nicht diesem Ideal entsprechen könnte. Oder die irrationale Angst, von meinem Umfeld bei einem Fehlschlag, schlicht gesagt, als Versager betrachtet zu werden.

Bestleistungen ohne Sorgen

Wie mir Videospiele den Umgang damit erleichtern? Auf verschiedene Weisen. Rhythmusspiele wie Osu! oder Love Live: School Idol Festival geben meinem Hirn zum Beispiel, was ihm die Arbeit nicht geben kann.

Sie verbinden eine realistische Möglichkeit, mich selbst zu überbieten, mit der konkreten Bewertung meiner Leistung. Ich kann alte Highscores pulverisieren, mehr Noten mit perfektem Timing treffen, oder mit genügend Übung komplexe Songs meistern, die mein Hirn wenige Wochen zuvor allein beim Zuschauen überlastet haben.

Keine Lösung meines Problems, aber für den Moment ein Ventil: Rhythmusspiele. Keine Lösung meines Problems, aber für den Moment ein Ventil: Rhythmusspiele.

Auch sonst ist das Genre komfortabel für mich. Ich kann bestimmen, wo und wie schnell ich mich verbessern möchte, da ich die Songs und ihren Schwierigkeitsgrad jederzeit selbst wählen darf. Die "Beatmaps" (sozusagen die Reihenfolge und Position der Notensymbole) ändern sich nie; so ist die Herausforderung einzelner Songs stets dieselbe. Und sollte mir ein Song nicht gelingen, starte ich ihn einfach neu und übe weiter. Ein Erfolgsrezept für maximale Erfolgsgefühle mit minimaler Sorge ums Scheitern.

Auf Dauer ist das natürlich keine Lösung. Die Bestie des Perfektionismus mit Highscores zu füttern, wird sie langfristig wohl eher stärken, nicht zähmen. Etwas Gutes haben die Rhythmusspiele aber. Erst durch sie bin ich zu dieser Erkenntnis gekommen. Das hat mir wiederum das Verstehen meines Problems und seiner Auswüchse erleichtert.

JRPGs vertrieben ein Stück des Perfektionisten

Zum Glück gibt es Genres wie JRPGs. Sie konnten Teile meines Perfektionismus austreiben, wenn auch unfreiwillig. Denn ironischerweise dienten auch sie früher dem (versuchten) Ruhigstellen des Perfektionisten in mir. Für die meisten Rollenspiele gibt es ausführliche Listen mit dem besten Equipment, den stärksten Zaubern und Fähigkeiten oder, bei großen Held*innengruppen, der optimalen Party. Alles in einem Rollenspiel zu sammeln und es "perfekt" zu spielen, ist also recht einfach. Es bedarf nur Planung und Geduld.

Erik Körner
@snoopykoira

Bitte nehmt euch kein Beispiel an mir. Wenn euch etwas über mehrere Jahre belastet, solltet ihr professionelle Hilfe suchen. Videospiele sind ein wundervolles Hobby und Medium, aber kein Ersatz dafür. Ich hoffe, dass sie zeitnah die Rolle als Ventil in meinem Leben verlieren werden und es mit mir endlich bergauf gehen wird.

Ihr könnt euch wohl vorstellen, wie ermüdend es war, beim Spielen meine Nase über Jahre zwanghaft in Guides zu vergraben. Ich erreichte irgendwann einen Punkt, an dem der Frust darüber größer war als der Drang, meinen Perfektionismus zu befriedigen. Als ich das Schreiben über Spiele zu meinem Job machte, wollte ich außerdem mehr Spiele als nur JRPGs genießen, um fachkundiger zu werden. Auch rauben mir Uni und Arbeit mittlerweile schlicht die Zeit für den Grind. Das habe ich neulich wieder bemerkt, als ich aus Neugier die Länge eines 100-Prozent-Runs von Final Fantasy X gegooglet habe. Er dauert im Schnitt 150 Stunden, Tendenz nach oben.

In JRPGs alle Fähigkeiten freizuschalten, ist nur eine Sache der Geduld und Zeit. (Bild: Game UI Database) In JRPGs alle Fähigkeiten freizuschalten, ist nur eine Sache der Geduld und Zeit. (Bild: Game UI Database)

Das waren genug Gründe, um das penible Optimieren meiner Party oder "perfekte" Abschlüsse von JRPGs hinter mir zu lassen. Überhaupt spiele ich sie nur noch selten und stattdessen, wie geplant, mehr Spiele anderer Genres. Es ist zwar nur ein kleiner Fortschritt, aber seitdem bin ich etwas glücklicher.

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Die unerwartet therapeutische Wirkung von Dark Souls

Eines dieser neuen Spiele aus anderen Genres ist Dark Souls. Weshalb ich den modernen Klassiker erst jetzt nachhole, sollte offensichtlich sein. Kein anderes Spiel, beziehungsweise Franchise, wird häufiger im selben Atemzug mit hohen Schwierigkeitsgraden genannt. Meine Versagensängste haben es ewig von mir weggeschoben. Ich wollte mich davon aber nicht länger terrorisieren lassen. Und so paradox es klingt: Ich konnte mit Dark Souls die Angst lindern, ausgerechnet dank eines Fehlers.

So kam's: Als ich nach meinen ersten Stunden im Königreich Lordran die Undead Parish erreichte, duellierte ich mich mit einem Balder Ritter. Wir umkreisten uns langsam, die Augen aufeinander fixiert. Die gewichtige Stille der Gegend durchbrachen nur das metallische Klirren unserer Rüstungen und ein dumpfer Knall, wenn unsere Schwerter mit dem Schild des anderen kollidierten. Plötzlich schritt er zurück und ließ seine Deckung fallen. Merkwürdig, dachte ich, gierte aber trotzdem nach einem weiteren Hieb. Ein Fehler. Er parierte mich ins Grab.

Früher hätte mir meine Angst den Kampf gegen Kreaturen wie den Klaffdrachen aus Dark Souls verboten. Früher hätte mir meine Angst den Kampf gegen Kreaturen wie den Klaffdrachen aus Dark Souls verboten.

Unerwarteterweise regte ich mich nicht auf, sondern lachte über mich selbst. Wie konnte ich auf einen so offensichtlichen Trick reinfallen? Also stiefelte ich (etwas beschämt) mit neuem Wissen zurück, suchte den Balder Ritter - und siegte. Beim zufriedenen Blick auf seinen zu Boden sinkenden Körper realisierte ich zum ersten Mal seit Jahren: Fehlschläge sind keine Schande, sondern ein normaler Teil jedes Lernprozesses. Wichtig ist, dass ich an ihnen wachse. Es wird wohl noch dauern, bis ich die Erkenntnis auch im Job akzeptieren kann. Dass ich sie überhaupt hatte, genügt erstmal.

Ich weiß, dafür sollte ich keine Videospiele brauchen. Aber für mein Hirn sind sie momentan eine greifbarere Erfahrung, als eine handvoll durchschnittlicher Artikel mit konstruktiver Kritik zurückzubekommen. Deswegen kann ich es kaum erwarten, endlich einen Therapieplatz zu finden. Ich möchte nicht länger unrealistische Ideale jagen oder im Schatten irrationaler Ängst leben. Videospiele können mir vielleicht beim Umgang mit ihnen helfen, aber sie werden das Problem nie ausradieren können. Außerdem möchte ich nichts weniger, als der Typ zu sein, der seine Lebensweisheiten ausgerechnet von Videospielen lernt.

Eine wichtige Bitte: Da es sich bei unseren Artikeln aus der Mental Health-Woche um sensible Themen handelt, die uns beim Schreiben teilweise viel abverlangt haben, bitten wir euch an dieser Stelle ganz besonders um eine freundliche und verständnisvolle Kommentarkultur. Vielen Dank und viel Spaß beim Lesen!

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