Returnals Selene ist, was viele Frauen nicht sein dürfen: nicht mehr jung

Für welche Art von Protagonist*in entscheiden sich Entwickler, wenn sie eine Geschichte erzählen? Returnal setzt auf eine fähige, SciFi-Heldin im mittleren Alter - und davon gibt es noch viel zu wenige.

In Returnal ist Selene auf der scheinbar endlosen Suche nach dem "White Shadow"-Signal. In Returnal ist Selene auf der scheinbar endlosen Suche nach dem "White Shadow"-Signal.

Wer die (gar nicht so kurze) Historie von Housemarque kennt, der weiß, dass das neueste Mitglied der PlayStation Studios schon immer für wilde, blitzschnelle Action (Resogun, Nex Machina) bekannt war, nie aber für Geschichten und Charaktere. Tatsächlich hatten die finnischen Entwickler bis vor kurzem nicht einmal ein Story-Department, keinerlei Autoren - dann kam Returnal und damit auch Protagonistin Selene Vassos. Das PS5-Debüt von Housemarque ist auch ein Storytelling-Debüt mit der ersten, echten Housemarque-Heldin.

Action-Heldin mit Erfahrung

Dass die Wahl von Returnals Protagonistin auf Selene gefallen ist, empfand ich in doppelter Hinsicht als spannend. Zum einen mochte ich Sci-Fi-Heldinnen schon immer (liebe Grüße gehen raus an Samus Aran und Ellen Ripley), zum anderen ist Selene eine Figur, wie man sie nur selten sieht. Denn während der überwältigende Anteil von Frauen in Spielen entweder jung und (konventionell) attraktiv oder aber alt und weise ist, ist Selene eine Videospielheldin im mittleren Alter.

Returnal setzt Selene unter immensen Druck, dem sie allerdings standhält. Returnal setzt Selene unter immensen Druck, dem sie allerdings standhält.

Und das ist durchaus etwas Besonderes. Von Männern sind wir es gewohnt, dass sie auch mit rüstigen Knochen noch ordentlich austeilen können. Joel, Geralt und Kratos sind allesamt Männer, die nicht durch ihre Jugend auffallen, sondern durch ihre Widerstandsfähigkeit. Ältere Frauen sind in Videospielen hingegen eine Seltenheit. Weibliche Helden wie Aloy, Ellie oder Lara Croft gehen stets als erwachsene Teenager oder Twentysomethings durch.

Selene hingegen steht nicht am Anfang ihrer Karriere, sie bereist nicht zum ersten Mal den Weltraum, ist körperlich fit und muss sich vor ihren ASTRA-Kollegen nicht mehr beweisen. Sie hat über Jahre hinweg Erfahrungen gesammelt, ist kompetent und agiert komplett autark. Und diese Lebensrealität wird Frauen in Medien nicht oft zugestanden. Wenn dann doch mal eine etwas ältere, weibliche Figur auftritt, dann in der Regel als kümmernde Mutter. Zumindest ist das meine Wahrnehmung als jemand, den wohl kaum jemand als Frau im mittleren Alter bezeichnen würde, der aber eben nur sehr wenige ältere Frauen in Videospielen steuern durfte.

(Viel) mehr als nur Mutter

Und ja - Achtung Spoiler! - auch Selene hat einen persönlichen Hintergrund, in dem ein Kind eine wichtige Rolle spielt. Die Darstellung von Müttern kenne ich aus Videospielen allerdings oft nur als aufopferndes, romantisch verklärtes Ideal - wie beispielsweise Freya aus God of War. Der Charakter von Selene ist für mich aber deshalb so spannend, weil er nicht dem emotionalen Drehbuch folgt, das ich bei vergleichbaren Figuren schon so oft gelesen habe. Es geht nicht um das Annehmen von Verantwortung oder einen aufkeimenden Beschützerinstinkt, sondern um Reue, Ablehnung und Schuld.

Auf ihrer Reise lernt Selene viel über sich selbst - vielleicht etwas zu viel. Auf ihrer Reise lernt Selene viel über sich selbst - vielleicht etwas zu viel.

Wenn sich Selene durch die bombastisch inszenierten Gefechte von Returnal schlägt, dann geht es ihr nicht um jemand anderen, sondern um sich selbst. Sie ist auf ihre eigenen Sehnsüchte nach Klarheit und Wahrheit fokussiert. Selene ist weder eine Heilige, noch urteilt das Spiel moralisch über sie. Ihre Fehler, von denen sie durchaus eine Menge begangen hat, schaffen zwar ein Trauma, das sie überwinden muss. Gleichzeitig darf sie dabei aber ein vollwertiger Mensch bleiben und muss nicht nur einen Stereotyp ausfüllen.

Existenzialismus ohne Ende

Der spielmechanische Hintergrund von Returnal, die scheinbar endlose Zeitschleife (verbunden mit zahlreichen Toden) erzählt Selenes innere Getriebenheit. Durch die ständige Konfrontation mit Aufnahmen von sich selbst, an die sie sich nicht erinnern kann, und ihren eigenen leblosen Körper, wird der Fokus auf die eigene Identität gelenkt. Diese Auseinandersetzung mit sich selbst und nicht etwa mit dem Kind/Ehemann/Liebhaber oder dem gesellschaftlichen Blick auf Alter und Weiblichkeit ist nicht selbstverständlich.

Es ist natürlich nicht per se lobenswert, einfach nur eine ältere Frau zur spielbaren Heldin zu machen - das ist eine neutrale, kreative Entscheidung - allerdings ist es ungewöhnlich, dass Housemarque ihre ersten Storytelling-Schritte auf diesem Pfad beschreiten und Selene zugleich prominent auf's Cover des Spiels setzen. Selenes Weiblichkeit sowie ihr Alter sind für den Verlauf der Geschichte nicht wirklich wichtig und dadurch wird mir die Interpretation einer (etwas) älteren Frau geboten, die sonst ausgespart wird.

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