Micah aus Red Dead Redemption 2 ist kein Monster, sondern menschlich

Der RDR2-Antagonist wird von vielen verabscheut. Dabei ist sein Verhalten zwar nicht unbedingt moralisch, aber immer menschlich.

Micah hat so viel Hass nicht unbedingt verdient. Micah hat so viel Hass nicht unbedingt verdient.

Ich kann ja verstehen, warum viele Micah nicht mögen. Die ganze Red Dead Redemption 2-Kampagne lang entscheidet er sich konstant immer für die Sackgesicht-Option, er ist hinterhältig, gemein und weiß offensichtlich nicht, wie man einen Barbier besucht. Aber den blanken Hass, den manche Fans dem Outlaw entgegenbringen, kann ich trotzdem nicht nachvollziehen. Ziehe ich sein Leben, seine Erfahrungen und seine Entwicklung in Betracht, wirkt Micah nämlich nicht wie ein Monster - sondern menschlich.

Micah hat gestohlen, geprügelt, gemordet und Arthur, Dutch und die gesamte Bande mehrmals verraten. Aber was, wenn das für ihn der einzig richtige Weg war? Wenn in seinem Kopf schlicht keine andere Möglichkeit existierte und in seinen Augen alles nicht nur sinnvoll schien, sondern nötig und ehrenvoll? Hatte Micah einfach keine andere Wahl?

Info
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Theorie, die ich als Laie aufgestellt habe, weil ich Micah als Antagonisten spannend finde, ich bin weder Psychologin noch Verhaltensforscherin.

Auch Duelle galten zu unterschiedlichen Zeiten als mehr oder weniger moralisch. Auch Duelle galten zu unterschiedlichen Zeiten als mehr oder weniger moralisch.

Wenn ich mir Micahs Biographie im Red Dead Wiki so anschaue fällt auf, dass sein Lebenspfad in dem Moment vorgeschrieben war, in dem er als Sohn eines gewalttätigen, kriminellen Vaters aufwuchs. Denn obwohl bestimmte Verhaltensweisen in unseren Genen stecken, lernen wir große Teile unseres Verhaltens von unserer Umwelt. Von Familie, Freunden oder anderen Personen, mit denen wir viel Zeit verbringen.

Schlechtes Vorbild

Dieser Kreis prägt nicht nur unser Verhalten, sondern auch einen Großteil unseres Verständnisses von Moral und Recht sowie die Art, wie wir fühlen oder auf Situationen reagieren. Für Micah ist diese prägende Figur bis zu seinem siebzehnten Geburtstag hauptsächlich sein Vater. Ein Mann, für den es Alltag ist, Menschen auszurauben und mit aufgeschlitzter Kehle von den Dachbalken ihres eigenen Hauses baumeln zu lassen.

Hier lernt Micah eine für ihn wichtige Lektion: Wer so "schwach" ist, dass er oder sie so mit sich umspringen lässt, verdient alles, was ihm geschieht.

Da sein Vater ihm kriminelles, rücksichtsloses Verhalten vorlebt, orientiert sich auch Micah nicht an Gesetz oder Menschenwürde. In Micahs Leben geht es nicht darum, in der Gesellschaft zu funktionieren, denn als Outlaw war er niemals Teil davon. Micah muss sich nicht ans Gesetz halten, denn jeder Verstoß gegen die Regeln bringt ihm Geld, Ruhm und Ansehen anstatt Bestrafung. Und zuletzt sind von einem Mann wie Micahs Vater auch keine Zuwendungen oder gar Liebe zu erwarten, denn das werden traditionell mit Schwäche gleichgesetzt.

Outlaws leben außerhalb des Gesetzes. Outlaws leben außerhalb des Gesetzes.

Wenn also Gesetze, Menschenwürde, zwischenmenschliche Beziehungen oder die Integration in die Gesellschaft keine Rolle spielen, was bleibt dann als Orientierung? Stärke, Ehre und über allem der Drang zu überleben.

Im Wilden Westen gibt es keine Foren oder Gruppen, die Micah eine Alternative anbieten würden. Niemand zeigt ihm, dass es auch anders geht. Somit werden diese drei Faktoren zu den einzigen, die der Outlaw als wertvoll erachtet. Es gibt keine anderen Möglichkeiten.

Gemeinsam gesetzlos

Mit diesem Mindset trifft Micah erst auf Cleet und Joe und später auf Dutch van der Linde und seine Gang. Und für eine Weile läuft alles gut, denn in den gröbsten Punkten stimmen alle Outlaws überein:

  • Wer zu schwach ist sich zu verteidigen, verdient es, ausgeraubt zu werden.
  • Respektloses Verhalten jedweder Art kann nicht toleriert werden und muss mindestens doppelt so hart vergolten werden.
  • Ehre und Loyalität stehen über allem.

Denn wer außerhalb des Gesetzes und normalen Werten lebt, baut sich seinen eigenen moralischen Kompass. Man sagt zwar, es gäbe keine Ehre unter Dieben, aber das ist eigentlich nicht wahr. Untersuchungen auch in Gangs unserer Zeit zeigen, dass es sehr wohl einen festgelegten Ehrenkodex gibt, gegen den in keinem Fall verstoßen wird. Er basiert nur auf anderen Werten, wie zum Beispiel den oben genannten Ehre, Stärke und Loyalität.

Unter diesen Gesichtspunkten ergibt es beispielsweise Sinn, dass Micah im Horseshoe Overlook-Kapitel ein ganzes Sheriffsbüro zusammenschiesst, um seine Revolver zurückzubekommen. Die Gesetzeshüter verhafteten ihn, während er nur seine Ehre und die der Gang gegen die O'Driscolls verteidigte, dann sperrten sie ihn mit einem ehrlosen O'Driscoll in eine Zelle und nahmen ihm seine geliebten Waffen.

Das bedarf in Micahs Augen einer gewalttätigen Antwort, einer Einschätzung, die wir als Arthur bis zu einem bestimmten Punkt teilen: Schließlich schauen wir während der Schießerei nicht unschuldig auf unsere Stiefel, sondern mischen ebenfalls mit. Und auch der Punkt, an dem Micah einen illoyalen ehemaligen Bekannten und dessen Frau ausfindig macht und umbringt, kritisiert Arthur nicht etwa, weil es unmoralisch oder brutal war. Sondern weil Micah dabei so unvorsichtig vorging.

Hintergrund
Falls euch interessiert, auf welche Theorien ich mich stütze, findet ihr hier ein paar Referenzen:
Gangs und ihr "Kodex der Straße"
Gewalt und Moral in Gangs
Moralentwicklung nach Kohlberg und Piaget

Loyalität dem Stärksten

Micahs Gewalttätigkeit wird nicht nur toleriert, sondern gefördert und belohnt, und wen wundert das? Unterm Strich ist ja schließlich die ganze Bande nach heutigem Standard unmoralisch. Sonst wären sie ja auch keine Outlaws, sondern normale Bürger und das Spiel hieße nicht Red Dead Redemption 2, sondern Red Happy Frontierlife. Oder so ähnlich.

Aber wieso ging dann ab irgendeinem Punkt alles den Bach runter? Wieso wurde Micah zum Pinkerton-Informant, verriet die gesamte Bande und versuchte am Ende, Dutch zu verdrängen und dessen Platz selbst zu übernehmen? Hier kommt Micahs Grundmotivation ins Spiel. Überleben.

In Micahs Welt überlebt nur, wer selbst am stärksten ist oder sich an den Stärksten orientiert. Und für eine Weile war das Dutch van der Linde. Solange dieser sich so verhielt, wie Micah ehrenvoll und stark für sich definierte, genoß Dutch seine uneingeschränkte Loyalität. Doch mit der Zeit begann das Verhältnis zu bröckeln.

Selbst ist der Micah

Micah, der sich immer als Dutchs zweiten Mann gesehen hatte, begann, dessen Führungsstil anzuzweifeln, seine Entscheidungen zu hinterfragen. Und in dem Moment, in dem van der Linde in Micahs Realität nicht mehr der Beste ist, verliert er auch dessen Loyalität. Denn wir erinnern uns: Wer schwach ist, wird nicht geschont. Wer schwach ist verdient alles, was ihm passiert.

Nun, wo Dutch in Micahs Augen offensichtliche Fehlentscheidungen trifft und die Bande in den Ruin treibt, ist es an Micah, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Entweder, in dem er Dutch ersetzt, oder indem er die ganze Bande vernichtet und mit den "vernünftigen" Mitgliedern neu anfängt. Und genau das passiert im Beaver Hollow-Kapitel. Und während wir uns vielleicht von ihm verraten fühlen, hat Micah nur das getan, was er sein ganzes Leben lang gelernt hat: sein eigenes Überleben und das derer zu sichern, die seine Loyalität verdienen.

Also ja, Micah benimmt sich wie der letzte Sack. Nach unserem heutigen Standard. Aber ihn deswegen zu verteufeln wäre ungerecht, denn eigentlich hatte er nie die Chance, ein Held zu werden. Und seien wir mal ehrlich: Was wäre Red Dead Redemption 2 ohne Micah als Antagonisten?

Was haltet ihr von Micah?

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