No Man's Sky - Archäologen auf den Spuren unbekannter Zivilisationen

Die unendlichen Welten von No Man’s Sky sind für viele Spieler vor allem verwirrend groß, beliebig und chaotisch. Eine Gruppe von Forschern will Ordnung in das Chaos bringen und wandelt auf den Spuren unbekannter Zivilisationen. Mit im Gepäck: Archaeogaming, eine neue Perspektive auf Videospiele.

No Man's Sky hat tatsächlich noch mehr zu bieten als zufallsgenerierte Tierkörper-Unfälle. No Man's Sky hat tatsächlich noch mehr zu bieten als zufallsgenerierte Tierkörper-Unfälle.

Dank Hollywood und zahlreicher Videospiele haben die meisten von uns ein konkretes Bild vor Augen, sobald der Begriff »Archäologie« fällt: Ganz nach dem Vorbild des medialen Ur-Archäologen Indiana Jones denken wir an Abenteurer, die sich durch Dschungel und Wüstenlandschaften schlagen, um Schätze zu bergen oder untergegangene Städte aufzuspüren, während ihnen Nazis oder Wölfe auf den Fersen sind. Nicht selten fallen dieser Suche nach dem ultimativen Schatz sowohl Menschen als auch riesige Fundorte zum Opfer - denken wir nur an die fast schon obligatorische Explosion im großen Finale, die hinter unserem zum Ausgang stolpernden Held alles einstürzen lässt.

All das hat nur wenig mit der echten Archäologie zu tun. Doch wer spielerisch etwas über die tatsächliche Arbeit dieser Forscher herausfinden wollte, musste bisher sehr gründlich suchen: Das Text-Adventure Buried beispielsweise dreht sich um das Entdecken und korrekte Bergen von Funden, ihre Archivierung und Aufbereitung. Hunt the Ancestor lässt euch wiederum eine komplette Grabung inklusive spärlichem Budget verwalten. Spiele wie diese, so interessante Einblicke sie auch ermöglichen, können allerdings nur sehr schwer mit dem optisch eindrucksvollen Actionkino ihrer Hollywood-Konkurrenz mithalten. Daher bedienen sie meist ausschließlich eine überschaubare Indie-Szene oder Archäologen selbst, die neugierig sind, wie nah diese Spiele ihrem Beruf kommen.

Ein neues Kapitel für Videospiele — und Archäologie

Doch seit einigen Monaten entwickelt sich diese Neugier der Archäologen allmählich weiter und führte nun schließlich zur Gründung einer ganz neuen Bewegung, die mehr und mehr Forscher in die Welten der neusten AAA-Spiele aufbrechen lässt. Diese Bewegung hat sich den Namen »Archaeogaming« gegeben und ihr Gründervater Andrew Reinhard, ein amerikanischer Archäologe, ist sich nicht zu schade, die Idee des Archaeogamings etwas näher vorzustellen:

"Ich und einige andere dachten seit 2010 über Archäologie in Verbindung mit Videospielen nach, bis ich 2013 schließlich den Blog Archaeogaming.com ins Leben rief, um meine Mitarbeit an der großen Atari-Bergung zu begleiten."

Obwohl auf diesem Blog mittlerweile zahllose Abhandlungen und Artikel über diese neue Disziplin versammelt sind, lässt sich der Sinn von Archaeogaming auf zwei Stichpunkte eindampfen: Zum einen der Blick auf Videospiele als Produkt unserer Gesellschaft, die in keinem kulturellen Vakuum entstehen, sondern bis zum Rand mit Weltanschauungen, Implikationen und Selbstverständlichkeiten gefüllt sind, die hinterfragt oder beleuchtet werden dürfen. Ähnlich wie ein Archäologe antike Stadtarchitektur auf ihre Entwicklungsgeschichte untersucht, können sich Archaeogamer fragen, warum die Wikinger in For Honor keine Hörnerhelme tragen oder woher die Inspiration zur Heldenfigur des Hexers Geralt von Riva stammt.

Ruinen wie diese locken Archaeogamer an. Ruinen wie diese locken Archaeogamer an.

Zum anderen können Archaeogamer diese Betrachtung von außen auch hinter sich lassen, um direkt in der Spielwelt selbst zu forschen — und genau diese Idee führt nun seit einigen Wochen immer mehr Archäologen in die Unendlichkeit von No Man's Sky.

Die Suche nach der Ordnung

»Mikrofon ist eingeschaltet, Stream ist online, Laptop und Datenblätter liegen bereit. Es kann losgehen, bereit machen zum Start!« Nach einigen Erkundungsflügen im Weltall von No Man's Sky nimmt Andrew Reinhardt nun zum ersten Mal auch Zuschauer via Twitch live auf seine virtuelle Forschungsreise mit. Seine Stimme, die durch das Mikro wie die Ansage eines Flugzeugpiloten auf dem Flug in den Urlaub klingt, bereitet die Zuschauer auf die kommende Expedition vor, während er einen unbekannten, lila strahlenden Planeten ansteuert: »Wir werden jetzt in die Stratosphäre eintauchen und auf dieser Höhe den kompletten Planeten einmal umrunden. So können wir Ausschau nach Strukturen halten, die von oben besonders interessant aussehen.« Er fügt hinzu: »Als No Man's Sky erschien, war es für mich und meine Kollegen eine große Enttäuschung, dass es kein Koordinatensystem im Spiel gibt. Deswegen müssen wir uns nun selber Fixpunkte zur Vermessung der Oberfläche schaffen, was die Sache komplizierter macht, als es eigentlich nötig wäre.«

Trotz des ausgeprägten Zufallsfaktors lassen sich verschiedene Architekturstile der Alien-Völker erkennen. Trotz des ausgeprägten Zufallsfaktors lassen sich verschiedene Architekturstile der Alien-Völker erkennen.

Das Ziel von Andrew Reinhardt und seinen derzeit 15 Kollegen sind die zahlreichen Gebäude, Außenposten und Forschungsstationen, die auf den meisten Planeten von No Man's Sky verstreut sind. Dort notieren sich die Archaeogamer penibel genau jede architektonische Besonderheit und den exakten Aufbau dieser Strukturen auf vorgefertigten Datenblätter, die derzeit in einer ständig wachsenden Datenbank ausgewertet werden. Das Ziel ihrer Arbeit ist nicht nur die Kartographierung ganzer Galaxien, sondern auch die Erforschung ihrer Geschichte. Was ist auf den Planeten passiert, bevor sie Spieler entdeckten? In welchem Verhältnis stehen die verschiedenen Zivilisationen zueinander? Gab es Kriege oder andere Konflikte, deren Spuren es noch zu entdeckten gilt? Dass die Planeten zufallsgeneriert wurden, stört die Archaeogamer unterdessen nicht, im Gegenteil: So wird der Gedanke nur noch verlockender, Ordnung in das Chaos des Algorithmus zu bringen. All das erklärt Reinhardt geduldig seinem Live-Publikum, allerdings nicht nur aus purem Mitteilungsbedürfnis heraus, sondern auch, weil es der »No Man's Sky Archaeological Survey Code of Ethics« so von ihm verlangt.

Dieser Kodex dient den Archaeogamern als eine Art Leitfaden, um zu gewährleisten, dass alle Forschenden unter möglichst gleichen Bedingungen auf den verschiedenen Planeten vorgehen. In diesem Leitfaden steht mitunter auch, dass Archaeogamer die Fundorte — genau wie »echte Archäologen« — so wenig verändern sollen, wie nur irgendwie möglich. Das bedeutet nicht nur, dass die Forscher beispielsweise keine Raumstationen mit Gewalt öffnen dürfen, sondern auch eine möglichst konsequente Vermeidung von Kämpfen gegen Roboter, Tiere oder Menschen. Der Fußabdruck der Archaeogamer soll so klein wie möglich ausfallen. Diese Regeln einzuhalten, ist nicht immer einfach und frustriert auch gerne mal, das weiß auch Andrew Reinhardt. Doch die Eindrücke, die er regelmäßig auf dem offiziellen Twitter-Account des Forschungsprojekts teilt, entschädige die teils frustrierende Arbeit dann doch.

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Das Projekt der Archaeogamer ist bisher auf zwei Jahre angelegt, aber das langfristige Potenzial dieser Unternehmung ist noch weitaus größer: Einige der Projektmitarbeiter sind Archäologie-Studenten und werden ihre Forschungsergebnisse von den virtuellen Planeten zum Gegenstand ihrer Abschlussarbeiten machen.

Es ist eine breite Schneise, die Andrew Reinhardt mit dieser Verbindung aus Videospielen und Archäologie geschlagen hat, und innerhalb der Spielerschaft mittlerweile für einige, teils hitzige Diskussionen sorgt.

Wissenschaft für Alle

Archaeogaming will für jeden Spieler zugänglich sein und zum Ausprobieren einladen. Eine geisteswissenschaftliche Ausbildung braucht dazu niemand, vielmehr geht es zunächst einmal um das schlichte Entdecken von Zusammenhängen und darum, Videospiele ganz bewusst zu erleben. Dafür benötigt ihr lediglich ein geöffnetes Augenpaar und nicht etwa einen gerahmten Doktor-Titel an der Wand.

Ein solches, wenngleich auch geschultes Augenpaar könnt ihr beispielsweise auf dem Youtube-Kanal von Tara Copplestone in Aktion sehen. Die Archäologin spielt hier die unterschiedlichsten Titel und verfällt immer wieder in einen Spaziergang abseits des Spielgeschehens. Ihre Let's Play-Reihe zu The Witness beispielsweise ist gespickt mit spannenden Beobachtungen zur Umgebung, die dem Rätselspiel eine ganz neue Dimension an Spieltiefe geben.

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Let's Plays wie diese reihen sich neben ersten internationalen Archaeogaming-Konferenzen, zahlreichen neuen Blogs und wissenschaftlichen Kolloquien ein und machen diese Bewegung zu einer sehr breit gefächerten wissenschaftlichen Disziplin, die für ganz unterschiedliche Zielgruppen zugänglich ist. Während eine überwältigend positive Resonanz diese neue Perspektive auf Videospiele begrüßt und angeregt auf Reddit und anderen Plattformen über die verschiedenen Projekte diskutiert, gibt es auch einige wenige Spieler, die in Beißreflex-Manier reagieren: Videospiele seien nun einmal Videospiele und wer auf die Welt von The Witcher 3 archäologische Arbeitsweisen anwendet, mache sich mit einem wissenschaftlichen Ansatz lächerlich.

Es gibt viele Antworten, die diesem Vorurteil entgegnet werden können, doch am treffendsten formulierte es bisher wohl Andrew Reinhardt mit folgenden Worten selbst:

"Das hier ist echte Archäologie, die in einem Mikrokosmos stattfindet (...). Nur geht es nicht mehr um Ausgrabungen, wir laufen nicht mehr blind Artefakten hinterher. Wir suchen nach Verbindungen. Und Archaeogaming kommt vielleicht als einzigartige Möglichkeit in Frage, komplexe Wissenschaftsdisziplinen, künstliche Intelligenz, Philosophie und Anthropologie in einem interdisziplinären Feld zu vereinen, in dem sich die Archäologie schon immer bewegt hat und weiterhin bewegen wird. In 100 Jahren, wahrscheinlich sogar weniger, werden wir mehr und mehr digitale Archäologen sehen. Unsere Arbeit von heute hilft dabei, den Weg für die Archäologie der Zukunft zu ebnen."

Und eines hat die Arbeit der Archaeogamer tatsächlich bereits bewirkt: Unser Bild von der Archäologie hat dank der Arbeit von Reinhardt & Co. dauerhaft eine neue, besonders farbige Facette hinzugewonnen.

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